Kanzel
Neben dem Flügelaltar fällt die Kanzel sofort ins Auge, wenn man die Kirche betritt. Sie ist eine Arbeit des Lübecker Tischlers und Bildhauers Gerhard Fick aus dem Jahre 1675, ausgeführt im sogenannten „Ohrmuschelstil". Typisch für diesen Stil der Spätrenaissance und des frühen Barock (17. Jh.) sind ohrmuschelartig gebogene Blätterornamente, wie sie am Schalldeckel und am Fuß der sechseckigen Kanzel reichlich zu finden sind.
Zwischen den Ornamenten sind jeweils an den Ecken Kinderengelköpfe, so genannte Putten, deren Flügel ins Blattwerk übergehen. Zwei Putten an der Rückwand rahmen den Platz des Predigers. Auf der Unterseite des Schalldeckels über dem Platz des Predigers ist eine Taube dargestellt. Sie ist das Sinnbild des Heiligen Geistes, der Predigerin und Prediger in ihrer Verkündigung inspirieren möge. Gerahmt wird die Taube an sechs Ecken von zapfenförmigen Weintrauben, ein Symbol für das Heilige Abendmahl und das Blut Christi. Eine große zapfenförmige Weintraube schließt den Körper der Kanzel nach unten ab.
Oben auf dem Schalldeckel steht – wie es im Barock für Kanzeln typisch wird – der gute Hirte. In der rechten Hand hält er seinen Hirtenstab, auf der linken Hand hält er die Heilige Schrift. Auf ihr liegt mit erhobenem Kopf ein Lamm, das unter seinen rechten Vorderlauf ein Siegesfähnchen geklemmt hat. Hier handelt es sich um eine Besonderheit dieser Kanzel. Üblich ist, dass der Hirte das Lamm oder ein Schaf über den Schultern trägt. Der Hirte ist gemäß Joh 10,1-16 (in Anlehnung an Ps 23) ein Symbol für Christus, das Schaf ein Symbol für den gläubigen Christen. Gemäß Offb 5 ist das Lamm mit dem Buch (mit sieben Siegeln) ein Symbol für Christus, das Lamm Gottes (vgl. Joh 1,36), der mit seiner Auferstehung von den Toten den ewigen Tod besiegt hat. Christus ist also doppelt dargestellt, als den Tod überwindendes Lamm Gottes mit Siegesfähnchen und als guter Hirte.
An der Brüstung der Kanzel ist in der Mitte Christus als Heiland und Herrscher der Welt dargestellt, in wallendem Gewand mit Erdkugel in der linken Hand, die rechte Hand zum Siegeszeichen erhoben. Er ähnelt dem Christus auf dem Mittelflügel des Altars, wirkt aber dynamischer. Im Vergleich der beiden Darstellungen sind die stilistischen Unterschiede zwischen Spätgotik und Spätrenaissance gut zu erkennen. Dass dieser Kanzel-Christus auf die Außenwand der Kirche blickt und nicht ins Innere der Kirche, deutet darauf hin, dass die Kanzel ursprünglich nicht für unsere Herrnburger Kirche geschaffen wurde. Neben Christus sind rechts und links die vier Evangelisten dargestellt. Sie tragen jeweils die heilige Schrift in der linken Hand. Rechts außen mit Adler, bartlosem jugendlichem Gesicht und Griffel in der rechten Hand steht der Evangelist Johannes. Zwischen Johannes und Christus steht der bärtige Lukas. Zu seinen Füßen liegt ein Stier, dessen linkes Horn irgendwann einmal abgebrochen ist. Links neben Christus, ebenfalls bärtig und mit Griffel in der linken Hand, steht der Evangelist Markus. Zu seinen Füßen liegt ein Löwe. Links neben ihm, in das Evangelium vertieft, das er gerade schreibt oder korrigiert, steht der Evangelist Matthäus. Ein Engel reicht ihm ein Tintenfass. Zwischen den Figuren sind Säulen angebracht, die von Putten gekrönt werden.
Die Treppenwange schmücken vier bärtige Apostel. Ganz oben, neben den Evangelisten steht der neben ihnen bedeutendste Schriftsteller des Neuen Testaments, der Apostel Paulus. In der linken Hand hält er die Bibel. Die rechte Hand ruht auf etwas, das an die zapfenförmigen Trauben erinnert. Oder ist es der Knauf eines verloren gegangenen Schwertes? Links neben ihm steht der Apostel Andreas mit dem Andreaskreuz unter dem Arm. Ein bisschen müde sieht er aus. Neben ihm steht Jakobus der Ältere. Die Bibel unter dem linken Arm, den Hut mit Jakobsmuschel lässig auf der linken Schulter hielt er in der rechten Hand vermutlich früher einen Pilgerstab. Doch der ist verloren gegangen und auch die Hand hat in den vergangenen Jahrhunderten Schaden genommen, ebenso wie seine Füße, denen die großen Zehen fehlen. Neben Jakobus steht am Fuß der Treppe mit lichtem Haar der Apostel Petrus. In der rechten Hand hält er gemäß dem Wort Jesu die Schlüssel des Himmelreiches (vgl. Mt 16,19). Mit der linken Hand scheint er den Weg zu weisen, doch auch sie hat über die Jahrhunderte Schaden genommen. Über den Kapitellen der Säulen zwischen Andreas, Jakobus und Petrus finden sich Erntegaben anstatt von Putten.
Auch wenn Petrus mit Schlüsseln am Fuß der Kanzel steht, so bewacht er sie doch nicht. Der Wächter ist auf der Kanzeltür dargestellt: Aaron der Hohepriester, mit Helm, Brustschild, Weihrauchgefäß und Glocken und Quasten am Priesterwand. An ihm muss jeder vorbei, der die Kanzel besteigen will.
Die Blickrichtung Aarons und der Fuß der Treppe lassen ebenfalls erkennen, dass diese Kanzel einst für eine andere Kirche gefertigt worden war, wo sie vielleicht an einem Mittelpfeiler hing. Es ist eine Kanzel voll biblischer Symbolik, in deren Mittelpunkt das Christusmotiv steht.
Wer vor dem Aufgang zur Kanzel steht, dessen Blick fällt auf ein Bild, das über der Mauernische, dem ehemaligen Eingang der Kapelle, hängt. Es zeigt Johann Wilhelm Bartholomäus Rußwurm (21. Nov.
1770 - 17. März 1855), von 1809 bis 1855 Pastor in Herrnburg.
Vor dem Altar mit Kruzifix stehend hält er die von ihm selbst verfasste „Musikalische Altar-Agende“ (1826) in den Händen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war sie in den Gemeinden des Ratzeburger Landes in Gebrauch. Ein Exemplar der Agende befindet sich im Gemeindearchiv.
Frank Martin Brunn