Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel „Das Triumphkreuz der Lübecker Burgkirche – Auf den Spuren einer verlorenen Chorausstattung“ des Kunsthistorikers Dr. Jan Friedrich Richter in der
„Zeitschrift für Lübeckische Geschichte“ Bd. 96, 2016, S. 65 – 83. Der Auszug (S. 74 – 78) beschäftigt sich ausführlich mit dem Herrnburger Flügelaltar (Retabel), der mit seiner Entstehungszeit
zwischen 1400 und 1420, wie es am Ende des Auszugs heißt, „vermutlich das älteste der Lübecker Hochaltarretabel“ ist (Bild1). Er stammt möglicherweise aus der Lübecker Burgkirche, einer Kirche,
die zum Dominikaner-Kloster Maria Magdalena („Burgkloster“, heute Museum) gehörte und 1818 abgerissen wurde.
Bild 1
Das Herrnburger Retabel, möglicherweise aus der Lübecker Burgkirche, Lübeck Ende 14. Jh. bzw. um 1420. Links und rechts in den beiden Flügeln die zwölf Apostel, vor 1400. Foto: Jan Friedrich
Richter.
Wenn der Altar aus der Burgkirche stammt, dann muss er nach 1418 entstanden sein, denn, so schreibt Richter in dem Artikel vor dem hier wiedergegebenen Auszug, in einer Urkunde aus dem
Jahr 1418 äußern die Dominikaner des Klosters ihre dankbare Erwartung eines von dem städtischen Münzmeister Petrus Huk für die Burgkirche noch zu stiftenden Altars. Und mit diesem Altar
könnte eben das Retabel gemeint sein, das heute in der Herrnburger Kirche steht.
Aber wie kommt man zu der Annahme, dass das Herrnburger Retabel aus der Burgkirche stammt? Nach den schriftlichen Quellen des 18. Jahrhunderts ist das Lübecker Retabel zwischen 1742 und
1787 aus der Burgkirche entfernt worden, wie Richter ausführt. – An dieser Stelle setzt der Auszug ein:
Der zeitliche Ablauf korrespondiert gut mit dem Auftauchen eines in der Forschung nur wenig bekannten Retabels in der Dorfkirche von Herrnburg östlich von Lübeck. 1767 musste das Kreuzgewölbe
im Chor der Kirche wegen Baufälligkeit abgerissen und durch eine Holzbalkendecke ersetzt werden. Vermutlich nutzte man diese Gelegenheit auch zu einer Erneuerung der Ausstattung. Der
örtlichen Überlieferung zufolge soll nämlich das auf dem Hochaltar befindliche Retabel aus der Lübecker Burgkirche stammen. Vom ursprünglichen Bestand ist heute nur noch das Gehäuse mit den
Skulpturen erhalten; Fassung, Malereien und Predella (Altarsockel) sind verloren. Der geöffnete Zustand des Triptychons zeigt zentral im Schrein über der Verkündigung die Marienkrönung,
flankiert von Heiligen und einem Apostelzyklus in den Flügeln. Angesichts der Ausführlichkeit des über zwei vollständige Register laufenden Bildprogramms kann es sich bei dem Retabel
eigentlich nur um den ehemaligen Aufsatz eines Hochaltars handeln. Leider ist die Quellenlage zur Provenienz des Werkes denkbar schlecht. Die Herkunft aus der Burgkirche findet in der
Literatur keinerlei Erwähnung, wird in der Kirchengemeinde aber schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts kolportiert. Aufgrund der damaligen Kontaktsperre nach Westdeutschland kann diese
Information nur aus einer Quelle des Kirchenarchivs stammen, die sich bisher aber nicht hat nachweisen lassen.
Eine gewisse Unsicherheit ergibt sich auch aus dem Figurenprogramm. Der heutige Zustand stammt von einer Restaurierung 1936, bei der eine jüngere, vermutlich barocke Fassung entfernt wurde.
Mit ihr gingen auch die Namensbezeichnungen der einzelnen Heiligen auf den Sockeln verloren. Sie dürften, wie Johannes Warncke wohl zurecht vermutet hat, von der Inschrift an den Nimben (
Heiligenscheinen) übernommen worden sein, die sich bei der ursprünglichen Fassung an der Rückwand des Gehäuses befanden. (Johannes Warncke, Der Altarschrein in der Kirche zu Herrnburg. In:
Heimatkalender für das Land Ratzeburg. Schönberg 1929, S. 102f.) Mit ihnen lässt sich das Figurenprogramm vollständig rekonstruieren.
Im oberen Register im Schrein befinden sich neben der Marienkrönung die Heiligen Ignatius von Antiochien, Katharina, Dorothea und Polycarp, im unteren Register neben der Verkündigung die
Heiligen Margarethe (in der Inschrift eigenartigerweise als Salomon bezeichnet), Gertrud, Barbara und Agnes ( Bild 2). Der Umfang des Bildprogramms ist für norddeutsche Altäre eher
ungewöhnlich und lässt insbesondere Maria Magdalena, die Patroziniumsheilige der Burgkirche, vermissen. Andererseits wird sie im Wechsel mit Dorothea zu den Virgines Capitales (den vier,
manchmal drei großen heiligen Jungfrauen) gezählt, so dass sie ihrer Bedeutung gemäß auch auf den Außenseiten der Flügel dargestellt gewesen sein könnte, wo sich in der
barocken Fassung Malereien von Christus als Weltenherrscher und Johannes dem Täufer befanden. (Im Gegensatz … dazu …
spricht Warncke (s.o. S. 103) allerdings von zwei Christusdarstellungen.)
Bild 2
Zentraler Schrein im Herrnburger Retabel mit der Marienkrönung Mitte oben, vor 1400, der Verkündigung Mitte unten und den Heiligen (oben v.l.n.r.) Ignatius, Katharina, Dorothea, Polykarp, und
unten v.l.n.r. Margarethe, Gertrud, Barbara, Agnes, alle um 1420. Foto: Jan Friedrich Richter.
Setzt man trotz aller Unsicherheiten für das Herrnburger Retabel eine Herkunft aus der Lübecker Burgkirche voraus, so müsste man das Werk als Stiftung von Petrus Huk nach 1418 datieren ( siehe oben),
aus stilistischen Gründen aber kaum später als 1420. Das Retabel bildet einen für Lübeck eigentümlichen Zwitter aus altertümlichen und modernen Elementen. Marienkrönung und Apostel stammen von einem
Bildschnitzer, der seine Ausbildung im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts in Lübeck erhielt ( z.B. die Apostel-Figur in Bild 3). … Die restlichen Figuren dagegen (z.B. die Hl. Katharina in Bild 4)
sind in ihrer Gewandauffassung eng (verwandt) mit ... Arbeiten einer Werkstatt, die ab etwa 1420 die Produktion in Lübeck dominiert. Die ältere Stilform der Apostel des Herrnburger Retabels ist zu
diesem Zeitpunkt nicht mehr nachweisbar, so dass es sich hiermit um das Werk einer Übergangsphase um 1420 handeln könnte.
Bild 3
Apostelfigur im Herrnburger Retabel, oberes Register 3. v.l., vor 1400. Foto: Jan Friedrich Richter.
Bild 4
Hl. Katharina im Herrnburger Retabel, innerer Schrein oberes Register 2.v.l., um 1420. Foto: Jan Friedrich Richter.
(Kurze Erläuterung: Die ältere Stilform (Apostel, Marienkrönung), um 1380-90, erkennt man an den etwas schematischeren Faltengehängen, die kegelförmig, wie umgedrehte Eiswaffeln oder
Schultüten, dicht bei dicht und ein wenig steif herabhängen. Bei der jüngeren („modernen“) Stilform dagegen (Verkündigung und die Heiligen), um 1420, wirken die Stoffe schwerer, faltenärmer,
natürlicher herabfallend. Diese Unterschiede sind nicht zufällig: Die mittelalterlichen Künstler sakraler Werke arbeiteten nicht nach individuellem Geschmack, sondern nach Vorlagen, die zwar im
Detail variiert werden konnten, im Ganzen aber immer erkennbar waren und sich im Laufe der Zeit nur langsam änderten. Bei den romanischen und gotischen Kirchenbauten war das nicht anders. Daher
kann die Kunstgeschichte solche Werke immer ziemlich genau datieren.)
Bezieht man dagegen die oben genannte Urkunde (der Dominikaner von 1418 über den noch zu stiftenden Altar) nicht auf dieses Retabel, dann würde man das Herrnburger Werk aus stilistischen Gründen
eher um 1400/-10 datieren.
Vielleicht lässt sich für die stilistischen Unterschiede der einzelnen Teile aber auch eine andere Erklärung anführen. Die altertümlichen Figuren – Marienkrönung und Apostel – bilden den üblichen
Bestand eines Marienkrönungsretabels, also desjenigen Typs von Retabel, der um 1400 im Norden am weitesten verbreitet war. Doppelzeilige Konstruktionen sind zu dieser Zeit eher ungewöhnlich, und
im Fall des Herrnburger Retabels fällt auf, dass alle Figuren, die über den üblichen Bestand hinausgehen, zu der jüngeren Stilstufe gehören. Es wäre also durchaus denkbar, dass sich die
Stilunterschiede durch zwei verschiedene Bauphasen erklären. Die altertümlichen Figuren könnten durchaus noch von einem Retabel stammen, das vor dem Umbau der Burgkirche Ende des 14. Jahrhunderts
entstanden ist. Die jüngeren Figuren wären dann als Folge einer Erweiterung dieses Altaraufsatzes – also möglicherweise einer Zustiftung von Petrus Huk – aus der Zeit um 1420 zu werten.
Unabhängig von dieser Feindatierung hat sich in Herrnburg vermutlich das älteste der Lübecker Hochaltarretabel erhalten, ein Werk, das wohl vor Ort in der Hansestadt entstanden sein dürfte.
Die Wiedergabe dieses Artikelauszugs und der Fotos erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeberin der „Zeitschrift für Lübeckische Geschichte“ – im Auftrag des „Vereins für Lübeckische
Geschichte und Altertumskunde“ –, Frau Prof. Dr. Antjekathrin Graßmann, und des Autors, Herrn Dr. Jan Friedrich Richter.